Zur Frage der verschiedenen wohltemperierten Stimmungen
Eine andere kritische Stimme
zum Thema gleichstufige Stimmung
Buchvorstellung aus dem Internet (http://kilchb.de/rein_duffin.html):
Ross W. Duffin: How Equal Temperament Ruined Harmony
(And Why You should Care)
Verlag W.W. Norton & Company, New York London, 2007
S. 27 Bei der gleichstufigen Stimmung werden die Quinten angepasst (statt 702 Cent eben 700 Cent) und damit ist die Geschichte für viele Schreiber und Musiker zu Ende – außer, dass dieses System der 12 gleichen Halbtöne auf schreckliche Weise für die musikalische Harmonie vereinfacht, denn viele heutige Musiker bemerken dabei nicht, wie schrecklich die große Terz bei gleichstufiger Stimmung klingt. Dieses Intervall ist der unsichtbare Elefant in unserem System.
S. 30 Unbeschadet, wie meisterhaft die heutigen Musiker sind, sie hören nicht mehr die schlechte große Terz der gleichstufigen Stimmung, weil sie diese stets benutzen (Konditionierung) und nie eine reine große Terz gehört haben (Ignoranz).
S. 148 Heutige Musiker glauben, dass seit Bachs „wohltemperiertem Klavier“ die gleichstufige Stimmung vorherrsche [falsch!]
Exzerpt
S. 15 Prelude
2002 erzählte Christoph von Dohnányi von seiner Frustration, als er mit seinem Orchester, dem Cleveland Orchestra, Beethovens
Neunte Symphonie einstudierte: Die Symphonie beginnt mit einem etwa zwei Minuten dauernden d-moll-Akkord. Dann kommt unvermittelt ein B-Dur-Akkord.
In der Probe gelang es nicht, dass dieser Akkord rein erklang.
Dies war für den Autor der Anlass sein Buch zu schreiben. Wenn diese professionellen Musiker nicht wußten, was bei einem einfachen Übergang von d-moll nach B-Dur passiert, dann wird es Zeit aufzuklären.
S. 19 I Sollen Leittöne leiten?
Die Schwierigkeit beim Stimmen eines Pianos nach 12 Quinten das C genau zu treffen zeigt die unergründliche Macht der Musik.
(William Gardiner, 1982)
Moderne Streicher werden gelehrt, Leittöne zu schärfen. (Den Leitton Gis bei Gis-A oder das As bei As-G dem Grundton anzunähern. Diese Expressive Intonation soll auf Pablo Casals zurückgehen.
Ausführungen zur Obertonreihe, zur Prim, zur Oktave, zur Quinte und Quarte Pythagoreischen Stimmung, Pythagoreisches Komma
Bei der gleichstufigen Stimmung werden die Quinten angepasst (statt 702 Cent eben 700 Cent) und damit ist die Geschichte für viele Schreiber und Musiker zu Ende – außer, dass dieses System der 12 gleichen Halbtöne auf schreckliche Weise die musikalische Harmonie vereinfacht, denn viele heutige Musiker bemerken dabei nicht, wie schrecklich die große Terz bei gleichstufiger Stimmung klingt. Dieses Intervall ist der unsichtbare Elefant in unserem System.
Fazit: Unbeschadet, wie meisterhaft die heutigen Musiker sind, sie hören nicht mehr die schlechte Große Terz der gleichstufigen Stimmung, weil sie diese stets benutzen (Konditionierung) und nie eine reine große Terz gehort haben (Ignoranz).
S. 31 II Wie Temperierung begann
Erläuterungskasten: Reine Intonation erfordert für die Harmonie der Akkorde eine Flexibilität in der Anpassung der Tonhöhe, die nur
Sänger oder Instrumente mit vergleichbarer Anpassungsfähigkeit aufbringen können.
Dies ist für Tasteninstrumente nicht möglich. Wie sollten diese gestimmt werden?
Erläuterungen zur 1/4-Mitteltönigen Stimmung (16. und 17. Jahrhundert): Die Quintenfolge C-G-D-A-E wird so angepasst, dass C-E eine reine große Terz wird. Die großen Ganztöne (Proportion 9/8) und die kleinen Ganztöne (Proportion 10/9) werden gemittelt.
Ebenso werden weitere Quinten im Quintenzirkel angepasst – aufwärts und abwärts (je nach System verschieden). Aber die letzte der 12 Quinten im Quintenzirkel ist 37 Cent zu hoch und klingt katastrophal unrein („Wolf“), ebenso alle Terzen, die durch diese „Wolfsquinte“ bedingt sind.
Als die Künstler mit immer weiteren Modulationssprüngen komponierten (zum Beispiel J.S. Bach), entstanden Temperierungen mit verschieden gestimmten Quinten, um den „Wolf“ abzumildern – auf Kosten der reinen Terz. Diese Temperierungen nannte man „wohltemperiert“. Manche Tonarten klangen besser, manche schlechter.
Es gab unzählig viele Vorschläge zur Temperierung, was zeigt, dass es keine eindeutige Lösung gab. Jedes System hatte sein Vorteile und Nachteile im Klang und in der Ausführung der handwerklichen Stimmung. (Werckmeister, Neidhardt, Kirnberger, Valotti).
Obwohl seit 1640 (oder früher) die gleichstufige Stimmung bekannt war, wurde sie nicht eingesetzt. Johann Georg Neidhard zum Beispiel beklagte (1732), dass die großen Terzen zu weit und die kleinen zu eng erklangen und die expressive Buntheit verloren geht. Francesco Galeazzi beschreibt B-Dur als „zart, weich und süß“, während E-Dur „schneidend, schrill und jugendhaft“ klingt.
S. 46 III Stimmen von Nicht-Tasteninstrumenten
Beispiel: Peter Prelleur, The Modern Musick-Master (1730). „The Art of Playing on the Violin“:
In einer graphischen Grifftabelle ist zu entnehmen, dass zum Beispiel GIS tiefer als As ist, was der reinen Stimmung entspricht (vergleiche die Terzen E-Gis und As-C).
Beispiel: Pier Francesco Tosi in seiner Singanleitung „Opinioni de' Cantori“ (Bologna, 1723)
Ein empfindliches Ohr hört zum
Beispiel, dass ein Es höher ist als ein Dis. Bei ihm besteht ein „großer Halbton“ wie E-F, H-C, D-Es oder Fis-G) aus 5 Teilen, während ein
chromatischer Halbton (C-Cis, B-H oder As-A) aus 4 Teilen, wobei ein Ganton 9 Teile enthält.
Dasselbe kann man bei Leopold Mozart über das Geigenspiel, bei Johann Joachim Quantz über Flötenspiel nachlesen.
S. 64 IV „WIE LANGE, O HERR, WIE LANGE?“
Aus den Notizen Wolfgang Amadeus Mozart und seinem Kompositionsschüler Thomas Attwood, der 1885 in Wien studierte, geht klar hervor,
dass bei Mozart der diatonische Halbton größer als der chromatische Halbton ist. (Siehe: Passus Duriusculus).
Mozart unterschied zwischen Tastaturstimmungen und Nicht-Tastaturstimmungen.
Es wird Arnold Steinhard (Erste Violine im Guarneri Quartett) zitiert, wie er den Konflikt zwischen horizontaler und vertikaler Intonation bewertet.
Bei der Diskussion über Mozarts g-moll-Quintett (K.516), Takt 92 (Ges), Takt 93 (FIS) argumentiert Steinhard für eine expressive Auslegung, Ross dagegen meint, dass dies nicht Mozarts Intention war.
Über Mozarts Quartett in G-Dur (K.387) argumentiert Michael Tree (Guarneri Quartett), dass sie, welche die expressive Intonation bevorzugen, hier sehr sorgfältig vorgehen.
Ross argumentiert, dass hier die gleichstufige Stimmung steril und statisch – wenn nicht gar langweilig und richtungslos – wirkt, während die Intonation mit chromatischen (kleinen) und diatonischen (großen) Halbtönen – wie im erweiterten mitteltönigen System, Leben und Richtung und sogar Humor gibt.
S. 76 V Eine Brücke zum Neunzehnten Jahrhundert
Bei Daniel Gottlob Türk (Musikdirektor in Halle) kann man in seiner Klavierschule (1789) nachlesen, dass D-Es 5 Teile und Es-E 4 Teile. Selbst
Klavierspielern sollte dies bewusst sein, dass das Klavier in dieser Hinsicht minderwertig ist.
Bei Haydn gibt es eine Bemerkung bei enharmonischen Verwechslungen zum Beispiel von Es nach Dis („L'istesso tuono“ – die gleiche
Note), dass er nicht in gleichstufiger Stimmung dachte (Siehe Op. 77, no. 2, 1. Ausgabe 1802).
Andererseits, nach Mozarts Tod finden sich vereinzelt Bezüge zu höher liegenden Leittönen. Zum Beispiel bei Bei Franzesco Galeazzi (1796) und – wie
nebenstehendes Bild andeutet – bei Bartolomeo Campagnoli in seinen „Nuovo Metodo delle Mecanica Progessiva“ (1797?).
Man könnte meinen, dass mit dem Aufkommen der gleichstufigen Stimmung für Tasteninstrumente diese Praxis allgemein angewendet wurde.
Es gibt jedoch genügend Hinweise, dass die alte Praxis (diatonischer Halbton größer als chromatischer Halbton) mindestens als
parallele Praxis weiter bestand. Beispiel:
1. Der Geigenspieler Michael Woldemar in seiner „Grand Méthode“ Paris, 1798-99/1802-03).
2. Bei Haydn gibt es eine Bemerkungen bei enharmonischen Verwechslungen zum Beispiel von Es nach Dis („L'istesso tuono“ – die gleiche Note), dass er
nicht in gleichstufiger Stimmung dachte (Siehe Op. 77, no. 2, 1. Ausgabe 1802). In einem Brief an Charles Clagett (Erfinder eines Pianos mit
39 Halbtönen in der Oktave) betont er, dass sein Instrument das ideale Begleitinstrument für Sänger sei.
3. Hermann von Helmholz, 1863
4.
und vielen weiteren Theoretikern, zum Beispiel Philippe Marc Antoine Geslin, 1825 oder Charles Éduard Joseph Delezenne, 1827
S. 76 V Eine Brücke zum Neunzehnten Jahrhundert
Louis Spohr plädiert unmissverständlich in seiner Violinschule (1832) dafür, dem Geigenspieler die gleichstufige Stimmung anzugewöhnen.
Der Grund hierfür ist jedoch, dass die professionellen Musiker ungleichstufig intonierten, dies aber Spohr zu kompliziert erschien.
Francois-Antoine Habeneck, Methode Théorique et Practique der Violon (ca 1835) führt aus, dass Violinen keine feste Skala im Gegensatz zu Tasteninstrumenten haben. Er empfiehlt auch Geigenspielern die gleichstufige Stimmung, aber nur, um sie nicht zu überfordern, nicht weil es professionelle Spiele auch bevorzugen.
Fazit: Die Empfehlung für gleichstufige Stimmung entsprach nicht der Praxis der professionellen Spieler.
Hector Berlioz bemerkt, dass Solo-Sänger und -Instrumentalisten die „alte“ Intonation verwenden können. (tiefe Kreuz- und höhere B-Noten).
S. 104 VII Manche sind Gleicher als Andere
In England wurde ab 1850 schrittweise die gleichstufige Stimmung für Klaviere, später auch für Orgeln eingeführt. Sie wurde „Equal Tempererament“
genannt, aber aus praktischen Gründen war sie immer noch nur wohltemperiert. Dies konnte man um 1917 mit physikalischen Methoden feststellen.
S. 119 VIII Der „Joachim Modus“
Joseph Joachim (1831 bis 1907) hat den Ruf der beste Geiger aller Zeiten gewesen zu sein.
Hermann von Helmholtz schreibt in seiner „Lehre von den Tonempfindungen“ (1863), dass er mit Joseph Joachim experimentierte. Er stellte fest, dass Joachim reine Terzen und Sexten intonierte. Dies zeichnete auch die Intonation seines Quartettspiels aus.
Dass er eher reine Terzen und Sexten als gleichstufige spielte, kann man auch in den ersten Schallplattenaufnahmen von ihm (trotz der technischen Mängel, 1903) feststellen.
Dies stand im Widerspruch zu vielen zeitgenössischen Interpreten, welche die geschärften Leittöne bevorzugten.
S. 138 IX Die Hölle des Missachtens
Heutzutage ist die gleichförmige Stimmung so vorherrschend, dass Musiker kaum mehr wissen, dass es andere Stimmungen gibt – selbst Ausübende von
alter Musik. Viele meinen, dass die gleichförmige Stimmung seit 1800 vorherrschend ist, was – wie diese Buch darlegt – bis 1917 nicht der Fall ist
und man auch nicht hören wollte.
Vergleich von philosophischen Strömungen wie „Vitalismus“ (irregulärer, trügerisch, undefinierbar etc.) und „Materialismus/Mechanismus“ (Reduzierung auf das Physikalische/Mathematische) (Längere philosophische Ausführungen].
Fazit: Die Monotheistische Religion der gleichstufigen Stimmung ist falsch und die Missachtung ungleichstufiger Stimmungen ist vorbei!
S. 145 X Wohin gehen wir von hier?
Heutige Musiker sind aufgewachsen in gleichförmiger Stimmung. Sie kennen gar keine ungleichstufigen Stimmungen. Und sie glauben, dass seit Bachs
„wohltemperiertem Klavier“ die gleichstufige Stimmung vorherrsche.
Dabei ist es unzweifelhaft, dass Bradley Lehmann 2005 das Rätsel löste, wie Bach sein Instrument stimmte.
Der „Stein von Rosette“ in Bezug auf die wohltemperierte Stimmung, wie sie J.S. Bach verstand.
[Hinweis: Die Entschlüsselung der Girlande gelang 1998 Andreas Sparschuh. Er zeigte, dass man die Girlande auf Bachs „wohltemperiertem Klavier“ als Stimmungsanweisung deuten kann. Bradley Lehmann verschwieg dies zunächst, so dass Duffin ihn fälschlicherweise als Entdecker bezeichnet.]
Und Bachs Stimmung ist ähnlich Neidhardts Stimmung und nicht gleichstufig!
Für uns bedeutet es, dass man wieder sein Augenmerk auf historische Stimmungen lenkt.
Wenn Sie Klavierspieler sind, lohnt es sich für sich selbst nachzudenken, welches Repertoire Sie spielen und danach Ihr Klavier zu stimmen. Und selbst auf einem Instrument, das wie bei J.S.Bach oder Mozart gestimmt wurde, klingt Schuberts Ges-Dur Impromptu anders als auf einem gleichstufig gestimmten Instrument und wurde es wirklich für ein gleichstufig gestimmtes Instrument komponiert?
Der Fokus dieses Buches liegt aber nicht auf den verschiedenen Stimmungen für Tasteninstrumente, sondern darauf was Nicht-Tasteninstrumentenspieler tun können. Sie, Sänger, Streicher, Bläser haben nämlich eine gewisse Anpassungsfähigkeit. Sie können Ihre Töne so anpassen, wie es die Harmonie verlangt.
Streicher sollten deshalb Ihre Geigen so stimmen wie zu Bachs oder Mozarts Zeiten (keine reinen Quinten, sondern enger). Der Autor hat festgestellt, dass Streicher, die behaupten reine Quinten zu stimmen, sich geirrt haben.
Der Vorschlag für Spieler lautet: Große Terzen etwas enger, kleine Terzen etwas weiter, Cis/Dis/Fis/Gis/Ais/H etwas tiefer, Des/Es/Ges/As/B etwas höher, Ganztöne etwas kleiner, diatonische Halbtöne etwas größer, chromatische Halbtöne etwas kleiner als bei der gleichstufigen Stimmung zu intonieren – wie es im 18. Jahrhundert üblich war.
So steht diese „Harmonische Intonation“ im Gegensatz zur „expressiven Intonation“.